Digitale Typenschilder in der Industrie – die neue Generation von Produktdaten

Für Konsumenten gehören digitale Produktkennzeichnungen bereits zum Alltag. Es gibt kaum ein Konsumprodukt was nicht mit einem QR-Tag oder einem 2D-Data-Matrix-Code versehen ist. Scannt ein Konsument diesen Code ein, erhält er weitergehende Produktinformationen. Bei elektronischen Produkten oder Möbeln wird über den QR-Code auf dem Produkt häufig auch eine ausführliche Betriebsanleitung oder Aufbauanleitung verknüpft. Der Mechanismus, einen digitalen Code auf einem Produkt abzuscannen und somit weiterführende Informationen zu erhalten, ist somit vielen bestens vertraut. Doch wie kann man die Praxis aus dem täglichen Leben in einen industriellen Kontext überführen? Diese und weitere Fragen beantwortet Roland Dunker, Produktmanager Komponenten, im Interview.

Wie lassen sich digitale Produktkennzeichnungen in einen industriellen Kontext überführen?

Roland Dunker: Die Antwort auf diese Frage ist das digitale Typenschild. In Industrieanwendungen lassen sich Produkte mittels eines digitalen Codes auf dem Typenschild mit spezifischen Daten verknüpfen. Hierbei kommen gedruckte Typenschilder gemäß der DIN SPEC 91406/IEC 61406 oder der VDI 0170-100 zum Einsatz. Der Unterschied zwischen beiden gedruckten Typenschildern liegt in den digital codierten Inhalten und den zulässigen digitalen Codes.

Gemäß der VDI 0170-100 sind 2D-Data-Matrix-Codes und RFID für die digitale Codierung zulässig. Der digitale Code beinhaltet hierbei den gesamten gedruckten Inhalt des Typenschilds sowie einen Link und eine eindeutige, weltweit einmalige ID zum Produkt – und zwar nachDIN SPEC 91406. Als Nachteil kann die Größe des gedruckten 2D-Data-Matrix-Codes angesehen werden, da dieser eine Größe von bis zu 4x4 cm annehmen kann. Bei vielen Produkten steht auf dem Gehäuse hierfür kein ausreichender Platz zur Verfügung.

Gemäß der DIN SPEC 91406/ IEC 61406 sind neben 2D-Data-Matrix-Codes und RFID-Tags auch QR-Tags zulässig. Der digital codierte Inhalt ist hierbei rein auf einen Link und eine eindeutige, weltweit einmalige ID zum Produkt beschränkt. Der Vorteil dabei ist, dass die Codes somit deutlich kleiner ausfallen können. Insbesondere für Hersteller ist der gemeinsame Bezug beider gedruckter Typenschilder zur DIN SPEC 91406/IEC 61406 hilfreich. Unabhängig von den jeweils gedruckten Typenschildern erfolgt der Zugriff auf Daten, die in einer Cloud hinterlegt sind, einheitlich. Somit können sich Hersteller im industriellen Kontext auf die produktbezogenen Inhalte auf dem Server fokussieren.

Welche Inhalte und Formate sind bei einem digitalen Typenschild hinterlegt?

Roland Dunker: Bevor man sich näher mit den Inhalten beschäftigt, ist vielmehr die Frage nach dem Format der Daten interessant. Im Rahmen von Industrie 4.0 und dem Ziel, maschinenlesbar Daten und Informationen auszutauschen, bietet sich das Format der Verwaltungsschale (Asset Administration Shell) als digitaler Zwilling an. Dieses herstellerübergreifende Format hat es sich zur Aufgabe gemacht, basierend auf etablierten Standards, herstellerübergreifend Daten und Informationen zu Assets in einer maschinenlesbaren Form auszutauschen. Die Kernstruktur ist ein XML-File, in dem nach Submodellen strukturiert Daten und Informationen hinterlegt und übergeben werden können. Ein wesentliches Submodell ist das digitale Typenschild, in dem die Informationen, die in einem gedruckten Typenschild enthalten sind, digital angeboten werden.

Für eine Maschinenlesbarkeit sind zu jedem Merkmal weiterführende Informationen hinterlegt, die u.a. neben der Beschreibung des Merkmals, den Datentyp, eine Klassifizierung z.B. gemäß Eclass und den Datentyp enthält. Neben dem digitalen Typenschild als Submodell sind die Submodelle Identifikation und technische Daten bereits spezifiziert. Weitere Submodelle werden aktuell vorbereitet. Hierzu ist die IDTA u.a. in Zusammenarbeit mit den Verbänden ZVEI und VDMA tätig.

Betrachtet man die Inhalte, die ein Hersteller im digitalen Zwilling bzw. der Verwaltungsschale hinterlegen kann, so stellt man fest, dass es theoretisch keine Grenzen gibt. Durch die offene Struktur kann man alle verfügbaren Produktdaten und Informationen wie beispielsweise die technischen Daten, Serviceinformationen, Wartungshinweise, Dokumente und Zertifikate, CAD- und Eplan-Daten zu einem Asset anbieten. Diese Verwaltungsschale kann dann auf einem Server oder im Asset selbst hinterlegt werden.

Wie kann man auf die Inhalte zugreifen?

Roland Dunker: Der Zugriff erfolgt im industriellen Kontext in gleicher Art wie der Zugriff auf Informationen durch digitale Produktkennzeichnungen bei Konsumgütern. Durch das Abscannen des QR-Tags gelangt man auf eine spezielle Webseite des Herstellers. Hier werden automatisch, ohne das eine weitere Suche benötigt wird, alle spezifischen Daten und Informationen zu einem Asset ausgespielt und angezeigt. Hierzu wird lediglich ein Smartphone, ein Tablet mit Kamera oder ein industrieller Codescanner sowie eine Internetverbindung benötigt. Alternativ dazu wird es auch möglich werden, auf der Herstellerseite nach Seriennummern zu suchen und somit ohne ein Scannen auf die Informationen zuzugreifen.

Welche Anwendungen und Vorteile für ergeben sich daraus für die Industrie?

Roland Dunker: Allgemein ermöglicht die Verwaltungsschale sehr viele Anwendungen, insbesondere im Rahmen von Industrie 4.0. Dies beginnt bei einem digitalen Engineering. Durch die digitale Bereitstellung von Produktdaten haben Planer die Möglichkeit, alle relevanten Informationen zu Komponenten in ihre Engineering- und Planungstools zu übernehmen und somit Zeit und Kosten zu sparen. Die Verwaltungsschale dient hierbei als Basis für einen digitalen Engineering-Prozess.

Weitere Vorteile ergeben sich bei Betreibern von Anlagen, selbst wenn diese nicht oder noch nicht vernetzt sind. Im Produktleben einer Komponente gibt es insbesondere auf Betreiberseite der Bedarf für einen einfachen Zugriff auf alle Daten und Informationen einer Komponente. Folgende sechs beispielhafte Anwendungen zeigen den Vorteil der sich aus der Nutzung von Digitalen Typenschildern in Kombination mit Verwaltungsschalen ergeben:

  • Automatische Kundeninformation bei Firmware-Updates:
  • Kunden können automatisch über Firmware-Updates per Email informiert werden. Ein mühsames Suchen entfällt.
  • Vereinfachte Suchen nach Produktdetails für Servicetechniker:
    Bei Unterstützung von Technikern durch ein Back-Office können alle Daten zu einem Produkt mit wenigen Mausklicks aufgerufen werden. Eine zeitaufwändige Suche in der mitgelieferten Papierdokumentation entfällt.
  • Automatisierte Erstellung von vorausgefüllten Rücksendescheinen:
    Retouren-Prozesse werden einfacher und automatisiert. Alle vorhandenen Daten zum Asset werden direkt in einen Rücksendelieferschein übertragen und können auf Knopfdruck an den Hersteller gesendet werden. Das verhindert Fehler und reduziert den Aufwand für Rücksendungen.
  • Digitales Wartungshandbuch für Komponenten, Maschinen und Anlagen:
    Auf Basis der Verwaltungsschale und digitaler Typenschilder kann ein digitales Wartungshandbuch realisiert werden. Die aufwändige Papierdokumentation im Feld entfällt. Das spart Zeit und Kosten.
  • Bereitstellung aller Dokumente und Zertifikate für Audits und Zollabwicklungen:
    Alle Zertifikate sind im direkten Zugriff durch Abscannen des QR-Tags am Produkt verfügbar. Ein mühsames Suchen nach Zertifikaten entfällt bei einem Audit oder den Zollformalitäten.
  • Identifikation von Nachfolgeprodukten im Servicefall:
    Direkte Identifikation von Nachfolgeprodukten ohne Suchen auf Herstellerseite. Dies bedeutet eine Reduktion der Downtime und eine deutliche Verbesserung der Effektivität in Servicefällen

Ein weiterer wesentlicher Vorteil ist, dass die jeweiligen Daten bezogen auf eine Seriennummer ausgespielt werden. So erhält man immer die passenden Daten zu dem spezifischen Produkt (inkl. der hinterlegten Firmware, den Dokumenten zu Produktionsstand, Zertifikate und vieles mehr). Unter dem Link https://demo-digital-twin.r-stahl.com kann man die oben beschriebenen Anwendungsfälle simulieren und erhält weitergehende Informationen, sowie Verwaltungsschalen als Prototypen für eigene Tests.

Welche weiteren Nutzungsmöglichkeiten gibt es?

Roland Dunker: Neben den gezeigten Anwendungsbeispielen bietet die Verwaltungsschale weiteres Potenzial – insbesondere als digitaler Produkt-Pass. Durch die Bereitstellung aller Produktinformationen und Daten eines Produktes durch den Hersteller in einer Verwaltungsschale, haben Anlagen und Maschinenbauer sowie Betreiber die Möglichkeit, die Daten der Verwaltungsschale weiter anzureichern: beispielsweise den Installationsort, Verdrahtungsdetails, Parametrierungen, Reparatur und Wartungsdaten. Die Daten können entweder über eine Registry mit den Herstellerdaten in der Cloud verknüpft werden oder in einem eigenen Systemen hinterlegt werden. Das Format der Verwaltungsschale bietet sich an, die Daten auch direkt in eigenen Softwaretools – z.B. Asset Management oder Wartungs-Systeme – zu übernehmen.

Ein wichtiger Aspekt ist zusätzlich eine aufkommende EU-Direktive, die Hersteller und Maschinen und Anlagenbauer dazu verpflichten wird, Daten in Bezug auf den CO2-Fußabdruck und die Nachhaltigkeit von Produkten in digitalen Produkt-Pässen zu hinterlegen. Auch diese Funktion könnten digitale Typenschilder bzw. die Verwaltungsschale übernehmen.

Das digitale Typenschild in Verbindung mit Verwaltungsschalen überführt einen Mechanismus aus dem täglichen Leben in den industriellen Kontext. Durch die Erweiterung von gedruckten Typenschildern wird ein direkter Zugriff auf alle Produktdaten ermöglicht. Dieses Vorgehen bietet allen Beteiligten wesentliche Vorteile, vereinfacht bestehende Prozesse und spart Zeit und Kosten. Verwaltungsschalen sind herstellerübergreifend, interoperabel, maschinenlesbar und bieten Zukunftssicherheit – insbesondere bei der Nutzung als digitaler Produkt-Pass. Eine Vernetzung von Anlagen und Maschinen ist nicht zwingend erforderlich.

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